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"Alljoah"

Stephan Hille18. Mai 2004

Kaum ein Wirtschaftszweig neben der Öl- und Gasindustrie ist so profitabel und wächst so schnell wie die russische Mobilfunkbranche. Kein Wunder, denn Russen lieben das Telefonieren.

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Noch vor wenigen Jahren galten Handys als Statussymbol, und das Mobilnetz deckte gerade mal die Hauptstadt Moskau und St. Petersburg ab. Heute sind bereits weite Teile des Landes mit Funkantennen erschlossen, der Besitz eines "Mobilniks" - wie das Handy hierzulande heißt - ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit. Innerhalb von nur fünf Jahren stieg die Zahl der Abonnenten von einer guten Million auf knapp 40 Millionen. Bald, so schätzen Analysten, wird jeder zweite Russe ein "Mobilnik" besitzen.

Mobilfunk wichtiger als Festnetz

Der Boom des Handymarktes erklärt sich nicht nur in dem Wunsch nach mobiler Erreichbarkeit, sondern auch in dem schlechten Festnetz. Wie schon zu Sowjetzeiten sind zwar Ortsgespräche noch immer kostenfrei, doch die Leitungen sind häufig völlig überlastet. So kommt es nicht selten vor, dass während eines Gesprächs aufgrund von Fehlschaltungen weitere Teilnehmer in ein Gespräch rutschen. Dies führt meist zu wüsten Beschimpfungen und gegenseitigen Aufforderungen, die Leitung sofort frei zu machen.

Vor allem in der Provinz waren zu Sowjetzeiten Telefonanschlüsse in privaten Haushalten Mangelware. Die wenigen Anschlüsse und Leitungen waren vor allem den Bürokraten auf den Ämtern vorbehalten. Je wichtiger der Bürokrat, desto mehr Telefonapparate stehen auf seinem Schreibtisch. Das Prinzip gilt auch heute noch. Und noch immer wählt man sich die Finger wund, wenn man in einer Behörde jemanden oder etwas erreichen will. Wer heutzutage noch keinen Festnetzanschluss hat, unterschreibt eher einen Handyvertrag, als dass er auf den Anschluss wartet. Inzwischen gibt es in Russland mehr Mobilfunkkunden als Festnetzteilnehmer.

Ein Mobilnik macht nie Pause

Für die Mehrheit der Russen verkörpert das Handy die individuelle Freiheit. Und, obwohl das mobile Telefonieren nicht gerade billig ist, lassen sich die Russen die Freiheit einiges kosten und telefonieren nach Herzenslust lange, viel und eigentlich überall. "Alljoah", brüllen die meisten Russen, wenn bei ihnen das Telefon klingelt. Statt den Namen zu nennen, ist es landetypische Sitte, den Anrufer mit einem unverbindlichen "Hallo" - auf russisch "alljoah" - zu begrüßen. Ständig klingelts um einen herum. "Alljoah" hört man allenthalben, auf der Straße, in den Büros, in den Geschäften und neuerdings auch in vielen Moskauer U-Bahnstationen.

Ein russisches "Mobilnik" macht nie Pause. Ob im Theater oder im Kino, Ivan Normalverbraucher ist auch hier erreichbar. Wenn es dann klingelt, heißt es: "Alljoah" und "Du, ich bin grad im Kino." Selbst im Flugzeug halten sich viele Russen nicht an das Handyverbot oder vergessen, ihre Funktelefone auszuschalten. So bimmeln die ersten "Mobilniki" hin und wieder bereits im Landeanflug: "Schatz, ich ruf gleich zurück. Wir landen gerade ..."