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Alles eine Frage des Angebots

Jens Thurau20. Mai 2005

Früher träumten die Deutschen von einer besseren Welt. Heute herrscht nüchterner Pragmatismus vor. Das zeigte sich in der zurückliegenden Woche besonders deutlich, wie Jens Thurau festgestellt hat.

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Eine merkwürdige Woche war das im politischen Berlin. Verbraucherschutzministerin Renate Künast sagte Zusatzstoffen in Zigaretten und Zigarren den Kampf an, das Kabinett beschloss die Offenlegung von Managergehältern. Aber so richtig waren die Handelnden nicht bei der Sache – wegen der Wahl in Nordrhein-Westfalen. Das wirklich wichtige Führungspersonal war eh dort unterwegs, um letzte Wählerstimmen aufzusammeln, so dass sich auch im politischen Herzen des Landes der Blick auf zwei Ereignisse lohnt, die viel aussagen über den Zustand unserer Gesellschaft. Der rasante Erfolg der Bank-Ticket-Verkaufsaktion des Discounter-Riesen Lidl und die neue Unverkrampftheit der Deutschen ausgerechnet zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals.

Service-Point im Discounter

In den 2600 deutschen Lidl-Filialen wurden am Mittwoch rund eine Millionen Bahn-Tickets feilgeboten – zum Preis von 50 Euro. Und sie waren sage und schreibe in einer Stunde vergriffen. Bahn-Chef Hartmut Mehdorn und Politiker aller Schattierungen waren begeistern, beweise dies doch, wie attraktiv die Bahn sei. Stimmt schon, aber vor allem zeigte sich, wie weltfremd die Herrschenden sind.

Denn die Tickets haben den Vorteil, dass man sie bis Oktober an beliebigen Tagen nutzen kann, und zwar zu einem beliebigen Ziel in Deutschland und zurück. Sie sind also unvergleichlich billig und so unkompliziert, wie die Bahn früher einmal war. Aber gerade Mehdorn hat das Bahnfahren mit einem Tarifdschungel aus Früh - und Spät und Wochenendbuchungen, Festbuchungen für bestimmte Züge und 25 und 50 Prozent Rabatten zu einer hochkomplexen Angelegenheit gemacht, die sich eben nicht antut, wer klar bei Verstand ist. Der Bomben-Erfolg der Lidl-Ticket Aktion zeigt also nur, dass die Menschen in harten Zeiten ihr Geld zusammenhalten, aber zugreifen, wenn die Angebote gut sind.

Ob Mehdorns Fazit stimmt, es sei gelungen, neue Kunden für die Bahn zu gewinnen? Gibt es überhaupt notorische Bahn-Gegner? Wenn der Preis stimmt und man nicht studiert haben muss, um ein Ticket zu kaufen, dann fahren die Menschen Bahn, so einfach ist das, Herr Mehdorn.

Picknick im Holocaust-Mahnmal

Ansonsten staunt Berlin über das Holocaust-Mahnmal. Viele Menschen finden den Weg zwischen die Stelen, aber sie lassen dabei oft den guten Geschmack beiseite. Sie springen von Stele zu Stele, sie posieren oben auf den Betonblöcken, ja, sie picknicken im Holocaust-Mahnmal. Was soll man dazu sagen? Eine neue Leichtigkeit macht sie breit, sogar dort, wo an sechs Millionen ermordete Juden erinnert werden soll. Vielleicht kein Wunder, wenn kein Fernsehabend mehr vergeht, an dem nicht an Albert Speer oder Rudolf Heß oder andere Nazi-Größen in Form von Doku-Dramen erinnert wird.

Es gibt also eine Art heiteren und zugleich nüchternen Pragmatismus im Deutschland des Jahres 2005. Die Menschen knausern herum und schlagen zu, wenn die Angebote stimmen. Sie sind leicht süchtig nach Events – und sei es im Holocaust-Mahnmal. Mit Träumen von einer besseren Welt sind sie nicht mehr so leicht zu ködern wie früher – auch nicht mit radikaler Kapitalismus-Kritik. Wer das beste Angebot macht, gewinnt. Auch in Nordrhein-Westfalen. Ansonsten lassen sie die Menschen ihren Spaß von niemandem verbieten – auch nicht von Geschmacksgrenzen. Manchmal können einem die Politiker richtig Leid tun – bei so einem störrischen Wahlvolk, das sich so oft anders als erwartet verhält.