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Allee und Autobahn

Jurko Prochasko11. Juni 2012

Unser Land als komplexes, vielfältiges Geflecht. Oder als ganzheitliches, gradliniges, unbeirrbares Land. Ein poetisches Einblick in das Deutschlandbild aus der Ukraine.

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Nächtliche Autobahn bei Frankfurt a. M. (Foto: dpa)
Nächtliche Autobahn bei Frankfurt a. M.Bild: picture-alliance/dpa

Wie erkläre ich Deutschland? Deutschland ist das Land der Alleen. Mein Deutschland. Von dichten oder lichten, langen Alleen. Die sind sonnig und schattig, immer schön und vielversprechend. Und die führen von Anbeginn meines Deutschlands an in verschiedene Richtungen, verlieren sich in mannigfaltigen Landschaften, verführen zu mehr. Irgendwann kreuzen sie sich, selbst wenn sie in entgegengesetzte Richtungen führen, überschneiden sich, indem sie ein sehr komplexes, kompliziertes und vielfältiges Geflecht ausmachen. Dieses Geflecht ist für mich Deutschland.

Mitten in diesen sehr schönen, sehr unterschiedlichen Landschaften liegen verschiedene Städte. Meistens sind sie eher klein. Aus der Ferne unterscheiden sie sich hauptsächlich durch die Farbe ihrer Dächer und die Art und Weise, wie die Dachsteine darauf liegen. Auch durch Silhouetten ihrer Kirchen und Dome. Ist man in ihrem Inneren angekommen, kommt es auch auf die Aussprache der Menschen und die jeweilige Bauweise an. Große Städte sind nicht so zahlreich, und die meisten tragen Spuren der früheren Zerstörungen, die die Städte mit mehr oder weniger gelungener Nachkriegsarchitektur wieder gutzumachen suchen. Im Laufe der Zeit werden diese neuen Bauten immer besser, so viel steht fest. Trotz der erheblichen Unterschiede in allem schafft das ganze Deutschland es aber, unmissverständlich deutsch zu sein.

Schnurgerade und schattenlos

In meinem Heimatland Ukraine stellt man sich Deutschland ganz anders vor. Vielleicht liegt es daran, dass die wenigsten meiner Landsleute wirklich dort waren. Und diejenigen, die dort waren, kommen nur selten für längere Zeit zurück oder behalten die Erinnerungen für sich. Im Bild dieser Landsleute sind die Alleen, die kleinen Städte und die erheblichen Unterschiede nicht vorhanden. Für Sie ist das D-Land ein ganzheitliches Land, ein Land der Autobahnen, ja, das der Autobahnen, nicht der Alleen. Die Autobahnen sind schnurgerade, breit, glatt, schattenlos, sie kreuzen sich nie (glaubt man) und führen trotzdem immer sicher ans Ziel.

Publizist und Übersetzer, Ukraine, 15.03.2012
Jurko ProchaskoBild: Waltraud Grubitzsch

Das Ziel kennt man immer klar und man weiß immer genau, wie man es erreicht. Ein Fehler auf der Autobahn ist unverzeihlich, deshalb gibt es in diesem Land der Autobahnen auch keine Fehler. Deutschland ist fehlerfrei, weil die Deutschen erstens perfekt sind und sich zweitens keine Fehler leisten können. Die Deutschen sind unfehlbar, doch wenn sie irren, dann fatal. Und nicht nur für sich allein. Daher sind die Deutschen einfach überlegen. Obwohl das unbestritten ist und bedingungslos an- und hingenommen wird, bleibt der Wille, von den Deutschen zu lernen, irgendwie seltsam gelähmt. Man hat Angst, dann die Seele zu verlieren, egal, was das ist.

Diese ukrainische Grundannahme vom unfehlbaren Deutschland wäre aber ganz unerträglich ohne eine hochinteressante innerseelische Operation. Sie ist denkbar einfach und beruht auf Spaltung, und damit werden die von Menschen gemachten Phänomene von den natürlich gegebenen streng und scharf unterschieden. Man lässt gern und irgendwie sogar willfährig die Deutschen in allem besser sein, was dem Geist der Organisation entspringt: im Technischen, Maschinellen, Selbstorganisatorischen, Institutionellen, Infrastrukturellen.

Natürlich und organisatorisch

Dafür spricht man ihnen umso entschiedener alles Einfach-So-Gegebene und Leidenschaftliche ab. Deshalb haben die Deutschen in unserer Fantasie perfekte Autos, unschlagbare Geräte, einwandfreie Hochschulen, gut funktionierende Politik und Diplomatie, qualifizierte Fachleute in allen nur erdenklichen Bereichen, ein gerechtes und ausgefeiltes Rechtssystem. Aber eben keine Naturschönheiten und keine breiten Naturen.

Der Kreschtschatik: die Kiewer Prachtboulevand (Foto: DW)
Der Kreschtschatik: die Kiewer PrachtboulevandBild: picture alliance/ZB

Deutsche Witze können bestenfalls anal sein, das deutsche Essen schmeckt nur, wenn es eine Bratwurst ist, und die schönsten deutschen Frauen sind Einwanderinnen und deren Nachkommen oder Mischlinge. Die deutsche Seele ist zwar kompliziert gestaltet und kann sogar tief sein, ohne jemals breit zu werden. Bier lässt man ihnen auch gern, weil dessen hohe Qualität ja eher der Technik als dem Gefühl verpflichtet ist. Vom deutschen Wein ahnt man in der Ukraine kaum, und wäre das der Fall, wäre die Erklärung so ähnlich. Ein Wunder, dass das Land so viele hervorragende Komponisten hervorgebracht hat.

Fußball – wie der Sport insgesamt – fällt in eine besondere Kategorie, die diese klare Trennung ein wenig kaputtmacht. Denn er befindet sich gerade dort, wo sich das Natürliche mit dem Organisatorischen kreuzt, wie Allee mit Autobahn. Deutsche Mannschaften sind zwar perfekt zusammengebaute, sehr gut organisierte und nach neuesten Erkenntnissen schlau trainierte Maschinen, bestehen aber am Ende auch aus Menschen. Und mit Menschen kann man sich messen. Wohl deshalb ist der Mythos vom Kiewer „Spiel des Todes“ so hartnäckig.

Das Stadion in Kiew (Foto: DW)
Das Stadion in KiewBild: cc-bc-Ilya Chochlov-sa-3.0

Wie auch immer: Man beneidet und bemitleidet Deutschland. Und das sagt wie immer viel mehr über uns aus als über das „Deutschland an und für sich“.

Jurko Prochasko

Jahrgang 1970, lebt in Lemberg/Lwiw, Ukraine. Der Germanist, Literaturwissenschaftler und Essayist arbeitet als Autor und Übersetzer. Er schrieb unter anderem im Sammelband „Sarmatische Landschaften“ und ist als Essayist für Die Zeit tätig. Ins Ukrainische übersetzt hat er beispielsweise Romane von Joseph Roth, Prosa von Gottfried Benn und Lyrik von Günter Eich sowie Texte von Friedrich Schleiermacher, Martin Heidegger und Jürgen Habermas. 2008 wurde Jurko Prochasko von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland ausgezeichnet. Er ist Mitglied der Vereinigung Ukrainischer Schriftsteller (AUP), des ukrainischen PEN-Clubs und Begründer des Ukrainischen Übersetzerverbandes (PA).