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"Al-Sisi ist der schlimmere Mubarak"

Nina Niebergall10. Februar 2016

Als Husni Mubarak am 11. Februar 2011 zurücktrat, jubelten Ägyptens Aktivisten. Heute sind viele tot oder im Gefängnis. Was von der Revolution geblieben ist, erklärt Politikwissenschaftlerin Cilja Harders im Interview.

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Wandgemälde von der Revolution in Ägypten (Foto: Getty Images/AFP)
Die Opfer der Revolution: Seit dem Aufstand 2011 wurden hunderte regimekritische Ägypter getötetBild: Getty Images/AFP/K. Desouki

DW: Zehntausende Regimekritiker und Oppositionelle sitzen heute in ägyptischen Gefängnissen. Zahlreiche Aktivisten sind tot. Gibt es die ägyptische Zivilgesellschaft, die sich bei den Aufständen vor fünf Jahren formierte, überhaupt noch?

Cilja Harders: Es gibt eine Menge Leute, die sich durch diese revolutionäre Erfahrung grundlegend verändert haben. Das hat ganz viel Aktivismus auf lokaler Ebene initiiert, der immer noch besteht. Da haben wir sehr exponierte politische Akteure aus der Opposition, die Islamisten und viele kleinere Initiativen, die sich ein wenig entpolitisiert haben. Gerade die jungen Leute lassen sich die Freiräume, die sie sich erkämpft haben, nicht ohne Weiteres nehmen.

Wer waren diese Menschen, die damals auf dem Tahrir-Platz gegen Mubarak demonstrierten?

Im Januar und Februar 2011 war eine breite und ziemlich heterogene Menge von Menschen auf dem Tahrir-Platz. Die Proteste waren von Jugendgruppen organisiert, aber auch von Gewerkschaften, Fußballfans, irgendwann den Muslimbrüdern und normalen Leuten, die gesehen haben, dass sie mit ihren Sorgen und Nöten nicht alleine sind und die sich unter dem Motto "Freiheit, Brot, Würde, soziale Gerechtigkeit" versammelten.

Wodurch ließen sich diese Menschen damals für ihr politisches Engagement motivieren?

Bei den Protesten ging es - und geht es nach wie vor - im Wesentlichen darum, den Raum des Politischen wiederzugewinnen als Ort der friedlichen Aushandlung gesellschaftlicher Lebensentwürfe. Also aus dieser politischen Erstarrung und der Korruption auszubrechen, um das eigene Leben selbst zu gestalten und die Herrschenden kritisieren zu können.

Politikwissenschaftlerin Cilja Harders, FU Berlin (Foto: FU Berlin)
Cilja Harders lehrt an der FU BerlinBild: Freie Universität Berlin/Gisela Gross
Und was ist heute, fünf Jahre nach der Revolution, von diesen Idealen noch übrig?

Die arabischen Proteste haben auf der Ebene eines veränderten politischen Bewusstseins viel gebracht. Im Hinblick auf Freiheitsrechte und Pluralisierung haben wir es aber mit dem Gegenteil zu tun. In Ägypten steht ein vergleichsweise willkürlich regierender Militärdiktator an der Spitze einer Regierung, die Repressionen immer weiter verschärft. Das führt zu Unsicherheit und zu Angst. Der Preis, den die Ägypter für diesen nachvollziehbaren Wunsch nach etwas Stabilität zahlen, ist extrem hoch. Daher denke ich nicht, dass die Gewalt durch das Regime, die Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen, die die Menschen damals auf die Straße getrieben haben, auslöschen können wird.

Menschenrechtsorganisationen sprechen angesichts von Massentodesurteilen, Polizeifolter und Zehntausenden politischen Gefangenen von einer neuen Qualität der Repression. Ist Abdel Fattah al-Sisi der schlimmere Mubarak?

Ja, weil unter dem System Mubarak die geschriebenen wie ungeschriebenen Regeln zumindest bekannt waren. Ich denke, dass die Bevölkerung, aber auch die politischen Aktivisten ganz gut einschätzen konnten, was der Preis dafür war, wenn sie die Staatsgewalt herausforderten. Im Moment sind die Repressionen sehr pauschal und schlecht zu kalkulieren. Das ist ein Bestandteil jeder diktatorischen Herrschaft.

Im November wurde Ahmed Said festgenommen, der als Arzt die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz 2011 behandelte. Er sitzt in einem Hochsicherheitstrakt und soll dort gefoltert werden. Wieso sieht sich die neue ägyptische Regierung von Leuten wie Said bedroht?

Es gibt keine rationalen Gründe für diese Art der willkürlichen und brutalen Verfolgung. Zum Teil sind die Verhaftungen Ausdruck dessen, dass al-Sisi dem Sicherheitsapparat extrem große Spielräume einräumt. Dadurch kann er die Rache nehmen, die er schon 2011 geschworen hat. Darüber hinaus hat die Judikative ihre Rechtsprechungstätigkeit in den Dienst einer herrschenden Elite gestellt, die auf den sogenannten Krieg gegen den Terror eingeschworenen ist. Da ist dann jeder Kritiker ein Terrorist.

Anhänger der "Free-Ahmed- Said"-Kampagne (Foto: Free Ahmed Said Campaign)
Ein Aktivist setzt sich in Berlin für die Befreiung des regimekritischen Arztes Ahmed Said einBild: Free Ahmed Said Campaign, Cairo

Ägypten leidet unter einer anhaltenden Wirtschaftskrise, die durch Korruption und Misswirtschaft noch befördert wird. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 40 Prozent. Wie entlädt sich der Unmut der ägyptischen Jugend heute?

Nach dem Sturz des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi 2013 wurde eine sehr heterogene Bewegung massiv unterdrückt. Das birgt immer die Gefahr, dass gerade die jungen Anhänger sagen: Ihr wehrt euch nicht genug, deshalb gehen wir nach Libyen zu Al-Kaida oder zum "Islamischen Staat". Es gibt aber auch viel Apathie und Hoffnungslosigkeit darüber, dass nicht einmal ein starker Mann vom Militär an der Spitze des Staates viel bewegen kann.

Wenn sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert und die politischen Gegebenheiten sich nicht verändern, gibt es dann eine weitere Revolution in Ägypten?

Revolutionen sind nie vorhersehbar. Was man prognostizieren kann: Einerseits wird die Gewalt des Staates seinen Bürgern gegenüber weiter bestehen. Andererseits gibt es aber zivilgesellschaftliche Nischen, die sofort wieder blühen und gedeihen werden, sobald das Regime ihnen etwas mehr Luft lässt. Das kann zu einer neuen, stärkeren Demokratisierungsbewegung oder zu Aufständen führen. Aber auch dazu, dass die Menschen noch eine ganze Weile die Repressionen durch das Regime dulden, weil sie das Gefühl haben, dass jede andere Entwicklung noch schlimmer wäre.

Cilja Harders ist Professorin an der Freien Universität Berlin und spezialisiert auf die Politik des Vorderen Orients. Sie hat sich unter anderem mit Transformations- und Demokratisierungsprozessen in der Region beschäftigt.

Das Interview führte Nina Niebergall.