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Politik

"Es ist eine düstere Zeit"

Ruth Michaelson tön
16. April 2018

Das Nadeem-Zentrum für Folteropfer wurde mit dem Amnesty Menschenrechtspreis 2018 ausgezeichnet. Welchen Schikanen es bei ihrer Arbeit inzwischen ausgesetzt ist, schildert Mitgründerin Aida Seif al-Dawla der DW.

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Ägypten Kairo - Gründerinnen des Nadeem-Zentrums für Folteropfer: Susan Fayyad, Magda Adly, Aida Seif el-Dawla, Mona Hamed
Gründerinnen des Nadeem-Zentrums für Folteropfer: Susan Fayyad, Magda Adly, Aida Seif el-Dawla, Mona Hamed (Archivbild)Bild: picture-alliance/dpa/Polaris Image/D. Smilie

"Laut Verfassung ist Folter ein Verbrechen, aber sie wird täglich praktiziert", sagt Doktor Aida Seif al-Dawla auf dem Sofa in ihrem gemütlichen Kairoer Apartment. "Wir sprechen hier von einer völligen Missachtung der Gesetze. Das Gesetz wird ignoriert, genauso wie die Verfassung."

Al-Dawla ist Mitgründerin des Nadeem-Zentrums für Opfer von Folter und Gewalt. Aus dem Stegreif kann sie die Zahl der Menschen nennen, denen die Einrichtung bisher mit medizinischer oder psychologischer Behandlung helfen konnte: Es sind 4968.

1993 wurde das Nadeem-Zentrum gegründet, fußt aber auf einer Idee von 1989. Damals erkannten die Psychiaterinnen Seif al-Dawla, Susan Fayyad und Abdullah Mansour die Notwendigkeit, Folgen von Folter zu behandeln. Der Anstoß kam von Freunden und Aktivisten, die nach Protesten während eines Stahlarbeiterstreiks verhaftet wurden und berichteten, gefoltert worden zu sein.

"Folter zielt nicht nur auf die politische Opposition. Tatsächlich sind die Folteropfer in der Mehrzahl gewöhnliche Bürger. Was sie gemeinsam haben ist Armut, soziale Ausgrenzung und fehlende Kontakte, falls sie mit der Polizei zusammenstoßen", so al-Dawla.

"Die Folter war uferlos", sagt sie über das vorrevolutionäre Ägypten, die Ära Mubarak. Unter dessen Herrschaft hatten sich Ägyptens Sicherheits- und Geheimdienste wie ein furchterregenden Netz über das Leben der Ägypter ausgebreitet. "Folter", sagt al-Dawla, "wurde nicht nur genutzt, um Geständnisse zu erzwingen. Sie wurde taktisch zur Einschüchterung eingesetzt, um Menschen von ihrem Land zu verdrängen, das ein Höhergestellter beanspruchte, oder um jemanden aus seiner Wohnung oder von seinem Ackerland zu vertreiben." Das habe grundsätzlich überall geschehen können, wo es Mitarbeiter der Sicherheitsdienste gab.

Kollaps der Zivilgesellschaft 

Als die ägyptische Revolution Präsident Hosni Mubarak wegfegte, gab es einen kurzen Moment des Innehaltens, eine Bilanz der unter seiner Herrschaft begangenen Verbrechen. Doch weit Schlimmeres sollte folgen: Der im Land weithin unterstützte Militärcoup von 2013 brachte Abdel Fattah al-Sisi an die Macht - und unter seiner Herrschaft kam es zu einer Renaissance der furchterregenden und nunmehr faktisch allmächtigen Sicherheitsdienste.

Der Machtzuwachs der Sicherheitsdienste unter al-Sisi hatte einen deutlichen und grausamen Effekt auf die ägyptischen Bürger, die routinemäßig aufgegriffen wurden. "Die Folterstätten wurden immer zahlreicher, die Macht der Polizei weitete sich aus", sagt al-Dawla und verweist auf die 19 unter al-Sisi neugebauten Gefängnisse.

Das Nadeem-Zentrum, führt al-Dawla aus, habe nun nicht mehr allein mit Folter-Spätfolgen zu tun, sondern auch dem sekundären Trauma der Familien von Verhafteten, denen Gerüchte über ihre gefolterten, verschleppten oder getöteten Kinder zu Ohren kommen.

Al-Sisis Herrschaft ging mit dem Zusammenbruch der Zivilgesellschaft einher, einschließlich Menschenrechtsgruppen oder aller Gruppierungen, die in irgendeiner Weise als gegen die Interessen des Staates gerichtet wahrgenommen werden.

Der "Fall 173"

Im Juli 2013 wurden 43 NGO-Mitarbeiter zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie ausländische Spenden angenommen hatten. Dieser Fall, inzwischen als "Fall 173" bekanntgeworden, führte zur Schließung einer Reihe von internationalen Organisationen im Land und erhöhte den Druck auf namhafte heimische Organisationen, die sorgfältig die Vergehen des Staates dokumentierten, unter ihnen auch das Nadeem-Zentrum.

"Fall 173" wurde 2016 neu aufgerollt. Zusammen mit einer Vielzahl von Maßnahmen, etwa Reiseverboten und dem Einfrieren von Vermögen prominenter Leiter und Mitarbeiter ägyptischer Nichtregierungsorganisationen. Auch gegen al-Dawla und zwei weitere Mitarbeiter des Nadeem-Zentrums wurde ein Reisebann verhängt. Die Regierung versuchte zudem Nichtregierungsorganisationen über eine neu geschaffene Institution zu regulieren, die über die staatliche Zulassung entscheidet. Die Repressionswelle gegen das Nadeem-Zentrum gipfelte indes im Februar 2016 in einer Verfügung der Bezirksverwaltung, das Zentrum wegen "Vertragsbruch und Lizenzverstößen" zu schließen. Obwohl das Gesundheitsministerium in einer Untersuchung derlei "Vertragsbrüche" nicht feststellen konnte, drangen die Behörden im Sommer 2017 erneut in drei Apartments ein, die dem Zentrum als Schaltstellen gedient hatten.

Es folgte ein langwieriger Rechtsstreit, in dem das Zentrum auf Wiedereröffnung der Räume drängte. Das Gericht gab dem Staat eine Frist bis zum 1. Juli, um neue Beweise zu liefern, die für eine Schließung des Nadeem-Zentrums sprächen. Doch dürfte der Rechtsstreit weitergehen. Unterdessen werden al-Dawla und ihre Mitstreiterinnen des Nadeem-Zentrums immer wieder in Sachen "Fall 173" vorgeladen werden, was sie regelmäßig aus ihrer Arbeit reißt.

"Wir werden weitermachen"

Nichtsdestoweniger macht das Zentrum weiter, wenn auch nicht in seinen angestammten Räumlichkeiten. "Unsere Klienten finden uns, und wir finden sie", sagt al-Dawla. Mit einem Schmunzeln denkt sie daran, wie sich in der ersten Zeit nach der Schließung Patienten und Ärzte verdeckt in Cafés zur Behandlung trafen. Nach und nach fand das Zentrum andere Kliniken, wo Ärzte und Patienten zusammenkommen konnten. Nicht nur Patienten wissen die Arbeit des Zentrums zu schätzen. "Ihre Arbeit zur Gesundung von Folter-Überlebenden hat vielen Menschen eine zweite Chance eröffnet", sagt Ahmed Abdulah von der ägyptischen Kommission für Rechte und Freiheiten, die nach dem Verbleib Verschwundener fahndet. "Mit Worten kann man nicht beschreiben, wie sehr wir ihre Arbeit schätzen." "Es ist eine düstere Zeit", sagt al-Dawla, "Aber solange wir nicht im Gefängnis sitzen, werden wir weitermachen."