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"Afghanistan ist noch kein Rechtsstaat"

15. August 2009

"Wir werden uns von Terroristen nicht abschrecken lassen": Afghanistans Außenminister Spanta spricht im Interview über die Präsidentenwahl, den Einsatz der Bundeswehr und die Erfolge nach dem Sturz der Taliban.

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Afghanistans Außenminister Rangin Nadfar Spanta (Foto: AP)
Afghanistans Außenminister Rangin Nadfar SpantaBild: AP

Am 20. August soll die Präsidentenwahl stattfinden: Ist das Land - angesichts des Wiedererstarkens der Taliban - überhaupt sicher genug für eine Wahl?

Rangin Dadfar Spanta: Das Terrornetzwerk Al-Qaida und deren Unterstützer sind entschlossen, die Wahlen nicht zuzulassen. Die afghanischen Sicherheitskräfte und die Internationale Gemeinschaft haben jedoch umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Wir sind entschlossen, die Wahlen durchzuführen. Ich akzeptiere, dass wir insbesondere im Süden mit einigen Sicherheitsherausforderungen rechnen müssen. Für den Verlauf der jungen afghanischen Demokratie sind diese Wahlen eine wichtige Voraussetzung. Wir werden uns von Terroristen nicht abschrecken lassen.

Die Bundeswehr unterstützt seit kurzem das einheimische Militär bei der Offensive gegen die radikal-islamische Taliban. Zum ersten Mal seit siebeneinhalb Jahren greifen deutsche Soldaten so massiv in das Kriegsgeschehen ein. Wie bewerten Sie die Leistung der Bundeswehr in Ihrem Land?

Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan (Foto: AP)
Die NATO führt in Afghanistan die Schutztruppe ISAF mit mehr als 64.000 Soldaten, an der auch Deutschland beteiligt istBild: AP

Die Strategie der Bundeswehr in Afghanistan, zivile Wiederaufbauelemente mit militärischer Präsenz als Aspekte einer einheitlichen Strategie zu betrachten, ist richtig. Wir können nicht zulassen, dass die Taliban und ihre Kombattanten unsere Errungenschaften zerstören. Ich bin mir der Sensibilität innerhalb der deutschen Öffentlichkeit bewusst. Dennoch sind wir mit einem Gegner konfrontiert, der die Brutalität als Prinzip gewählt hat. Die einzige Logik, die dieser Gegner versteht, ist die Logik der Stärke. Aus diesem Grund sind wir gezwungen, ihn zu bekämpfen. Wir betrachten die Zusammenarbeit zwischen afghanischen und deutschen Sicherheitskräften als positiv. Sie ist aus unserer Sicht sehr wichtig und momentan unersetzbar.

Vor mehr als sieben Jahren fand die internationale Petersberger- Konferenz bei Bonn statt, auf der die Teilnehmer die Zukunft Afghanistans nach dem Sturz des Taliban-Regimes planten. Wie würden Sie die Entwicklung in Ihrem Land seit dem Ende der Taliban-Herrschaft beschreiben?

Ich bedauere es sehr, dass das Afghanistanbild oft von negativen Schlagzeilen geprägt ist. Wir haben signifikante Erfolge in den letzten sieben Jahren erzielt, vor allem, wenn man bedenkt, dass das Land, das wir von Al-Qaida und Taliban geerbt haben, eine einzige Ruine war. Wir haben beispielsweise mehr als 5500 km asphaltierte Straßen gebaut, mehr als 75 Prozent der afghanischen Dörfer haben inzwischen Anschluss an unser "Nationales Solidaritätsprogramm". Während 2002 nur neun Prozent der Bevölkerung von den ersten Gesundheitsleistungen profitieren konnten, ist diese Zahl heute um mehr als 85 Prozent gewachsen.

Afghanistan hat seit 2002 bis heute ein jährliches Wachstum zwischen elf und 13 Prozent, mehr als sieben Millionen afghanischer Kinder gehen zur Schule, wohingegen im Jahre 2001 keine einzige Frau zur Schule gehen durfte. 38 Prozent unserer Schüler sind heute Mädchen.

Natürlich haben wir gravierende Defizite und Probleme, die wir bewältigen müssen. Dafür brauchen wir Geduld und Engagement. Es wäre sehr naiv zu denken, dass das Erbe von drei Dekaden systematischer Verwüstung in sieben Jahren beseitigt werden könnte, während die Terroristen weiterhin massiv militärische, finanzielle und andere Unterstützung bekommen.

Sie haben sehr früh dafür plädiert, das Taliban-Regime zu stürzen, um in Afghanistan elementare Menschenrechte durchzusetzen, vor allem für die Frauen des Landes. Wie würden Sie die bisherige Menschenrechtsbilanz der gegenwärtigen Regierung beschreiben und wie hat sich die Situation der Frauen verändert?

Technikschule für Frauen und Männer in Herat, Afghanistan (Foto: DW)
Erst seit dem Sturz der Taliban können Frauen wieder Schulen besuchenBild: DW

Wir haben in dieser Richtung bereits beachtliche Fortschritte gemacht. Heute sind 28 Prozent von unseren Parlamentarierinnen Frauen. Sie arbeiten heute als Ministerinnen, Gouverneurinnen und Botschafterinnen. Afghanistan hat in unserer Region die freieste Medienlandschaft. In meinem Land werden mehr als 400 Zeitungen und Periodika publiziert, im Jahre 2001 hatten wir nur einen einzigen Radiosender und keinen einzigen Fernsehsender. Heute verfügt unser Land über 19 Fernsehsender und mehr als 100 Radiostationen - eine blühende Presselandschaft. Natürlich gibt es Widerstände seitens der Kräfte der Vergangenheit und der Islamisten. Es gibt manchmal Überreaktionen. Nicht zu vergessen ist, dass Afghanistan eine sehr junge Demokratie ist, deshalb ist die Fortsetzung und Unterstützung des Demokratisierungsprozess wichtig.

Nun möchte Präsident Obama mit den Taliban verhandeln. Auch Präsident Karsai sagt, auch die Taliban sollten an diesem politischen Prozess teilnehmen. Was halten Sie davon?

Bei den Taliban handelt es sich nicht um eine homogene Gruppe, sondern um ein Konglomerat von Fraktionen mit unterschiedlichen Intentionen: afghanische Taliban, pakistanische Taliban, Fraktionen von Al-Qaida, Terroristen von Zentralasiens sowie Drogenbanden, Räuber- und Kidnapperbanden usw. Alle machen ihre mörderischen Geschäfte.

Viele Afghanen beschweren sich über das oft verletzende Verhalten der Soldaten aus dem Westen, über deren Arroganz und das Gefühl der Angst, das sich innerhalb der Bevölkerung ausbreitet - angesichts der vielen zivilen Opfer. Worin bestehen die Fehler des Westens in Ihrem Land?


Die Zahl der zivilen Opfer war im letzen Jahr gravierend und in manchen Fällen wäre dies auch vermeidbar gewesen. Wir begegnen unseren Gegnern nicht mit derselben moralischen Kategorie. Wir verpflichten uns, bei der Durchführung unserer militärischen Aktionen sehr auf die Bevölkerung zu achten. Die einzige realistische Maßnahme zur Reduzierung von zivilen Opfern ist die Einbeziehung von Afghanen in allen Phasen der militärischen Aktionen. Ohne Zweifel sind interkulturelle Kompetenz und das Verständnis für die Besonderheiten Afghanistans in diesem Zusammenhang von besonderer Relevanz.

Auf der anderen Seite beschweren sich Europa und die USA zunehmend über die Verschlechterung der Lage in Ihrem Land und über Inkompetenz und Vetternwirtschaft in der Regierung. US-Außenministerin Hillary Clinton sprach sogar von einem "Drogen-Staat". Wie stehen Sie zu diesen Aussagen?

Afghanistan ist ein Land im Übergang zum Rechtsstaat. Wir sind gezwungen, das Erbe von drei Dekaden Invasion und Zerstörung zu beseitigen. Drei Dekaden Krieg sind nicht spurlos an uns vorbei gegangen. Es gibt in Afghanistan Korruption, Vetternwirtschaft und die Missachtung von Gesetzen. Niemand kann das leugnen. Wir brauchen aber Zeit und Geduld, um diese Missstände zu beseitigen. Darüber hinaus möchte ich auf eine Tatsache hinweisen, dass Afghanistan ein sehr armes Land ist. Die Entwicklungsgelder kommen vom Ausland, aber wir bekommen nur 20 Prozent davon. Es wäre moralisch und auch politisch korrekt, uns für nur 20 Prozent der Missstände verantwortlich zu machen. Doch wohin fließt der Rest der Gelder und wie wird dieses Geld ausgegeben - all diese Fragen beschäftigen uns.

Für die Obama-Administration ist Afghanistan das dringendste Problem auf ihrer außenpolitischen Agenda. Wie könnte eine kohärente Strategie zur Befriedung Afghanistans aussehen?

Wir unterstützen die umfassende Afghanistan-Strategie Obamas. Zwei Elemente dieser Strategie sind aus unserer Sicht besonders wichtig: die Stärkung des Wiederaufbaus, die Einordnung der Konflikte als regionales Problem sowie die Berücksichtigung der Rolle Pakistans als Teil dieses Problems.

Wie sehen Sie Ihre politische Zukunft nach den Wahlen in Afghanistan am 20. August 2009?

Ich habe mich bereits als junger Schüler politisch engagiert. Und zweifelsohne ist das Leben eines afghanischen Politikers in ständiger Gefahr, aber andererseits bedeutet meine Arbeit den Einsatz für ein besseres, friedliches Leben in Freiheit – und für die Wahrung der Menschenwürde. Die Kräfte der Vergangenheit, nicht nur die Taliban, sondern auch viele andere, versuchen, die neue gesellschaftliche Ordnung dieses Landes zu bekämpfen und die Rechte und Freiheiten der Bürger einzuschränken.

Das ist der Grund dafür, weshalb ich meinen Lebensmittelpunkt in Zukunft auf jeden Fall in Afghanistan haben werde. Ich glaube, in welcher Funktion auch immer, werde ich eine wichtige Rolle im afghanischen politischen Leben spielen. Ich bin jetzt 55 Jahre alt - zum Aufhören, so glaube ich, ist es noch zu früh.

Interview: Loay Mudhoon

© Qantara.de 2009