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Geburten-Boom im ärmsten Land der Welt

Katrin Gänsler29. Februar 2016

Nirgendwo auf der Welt wächst die Bevölkerung so schnell wie im Niger. Vor knapp 50 Jahren waren es noch 3,5 Millionen Menschen. Heute sind es rund 20 Millionen. Doch Verhütung ist für viele immer noch ein Tabu-Thema.

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Niger Bevölkerungswachstum Frau mit Kindern
Bild: Getty Images/AFP/O. Omirin

Im Gesundheitszentrum Banifandou, einer Klinik in Niamey, der Hauptstadt des Niger: Ein Säugling schreit aus Leibeskräften. Das Baby ist gerade geimpft worden und der Schreck steckt ihm offenbar noch in den Gliedern. Die kleine Halimatou hat es da besser: Das neun Monate alte Mädchen muss heute keine Angst vor Spritzen haben, denn ihre Mutter ist aus einem ganz anderen Grund in die Klinik gekommen. "Ich möchte die Anti-Baby-Pille abholen", erklärt Mariama Souley und zeigt die Tabletten. "Beim letzten Mal habe ich sie für drei Monate bekommen. Die sind aufgebraucht und jetzt benötige ich neue." Die Behandlung wird von einer Krankenschwester in einem kleinen Heft dokumentiert. Die Frauen können auch andere Verhütungsmittel aussuchen, zum Beispiel die Spirale oder ein Verhütungsstäbchen, das unter der Haut eingesetzt wird.

Heft zur Dokumentation der Verhütungsmethode, Copyright: DW/K. Gänsler
In einem Heft wird die gewählte Verhütungsmethode eingetragenBild: DW/K. Gänsler

Statussymbol Kind

Mariama Souley bleibt bei der Anti-Baby-Pille, die sie seit Jahren nimmt. "Ich habe keinerlei gesundheitliche Probleme", sagt sie - und auch keine familiären: "Natürlich habe ich mit meinem Mann darüber gesprochen. Ich bin mit seinem Einverständnis hier. Beim ersten Mal hat er das sogar entschieden." Das ist längst nicht immer so. Schon die Familienplanung ist bei vielen Paaren noch ein Tabu und erst recht der Einsatz von Verhütungsmitteln.

Der Soziologe Issaka Maga Hamidou findet die weitsichtige Planung von Mariama Souley und ihrem Mann modern. Er lehrt an der Universität Abdou Moumouni in Niamey und ist Experte für Demographie. Längst nicht alle Paare würden so denken. Seine Zahlen sind alarmierend: "Jede Frau hat im Durchschnitt 7,6 Kinder. Jährlich wächst unsere Bevölkerung um 3,9 Prozent. Das ist weltweiter Rekord." Je nach Statistik schwanken die Zahlen zwar. Doch der Niger liegt immer auf den Top-Plätzen.

Tabuthema Familienplanung

Das bedeutet für den Sahel-Staat: Um dem wachsenden Angebot von Arbeitskräften nachzukommen, muss die Wirtschaft angekurbelt werden. Denn es braucht dringend Arbeitsplätze im formellen Sektor. Derzeit gibt es zu wenige Ausbildungsinitiativen für junge Menschen. Außerdem mangelt es überall im Land mangelt es an Krankenhäusern, Schulen und Sozialwohnungen.

Die Bevölkerungsentwicklung müsste auf der politischen Agenda müsste eigentlich Priorität haben. Bis zur Stichwahl um das Amt des Staatspräsidenten am 20. März sind es nur noch wenige Wochen. Doch sowohl Amtsinhaber Mahamadou Issoufou, sowie Herausforderer Hama Amadou meiden das Thema. Auch sonst gebe es keine Anzeichen dafür, dass sich der Staat auf die Bevölkerungsexplosion vorbereite. "Der Niger ist ein armes Land, um nicht zu sagen: das ärmste der Welt. Deshalb ist es besonders schwierig, eine Lösung für die Situation zu finden", sagt der Soziologe Issaka Maga Hamidou.

Issaka Maga Hamidou, Copyright: DW/K. Gänsler
Forscht zur Bevölkerungsentwicklung: Issaka Maga HamidouBild: DW/K. Gänsler

Bevölkerungsexplosion befördert Terrorismus

Dabei kann man das Problem nicht mehr übersehen: Auf den Straßen Niameys versuchen sich Jugendliche als Tagelöhner über Wasser zu halten. Fruchtbares Land am Rande der Stadt wird Bauland, obwohl die wachsende Bevölkerung dringend Nahrungsmittel braucht. Auf dem Land, wo 80 Prozent der Einwohner leben, sei die Lage noch prekärer, sagen Beobachter. So zum Beispiel in der Region Diffa an der Grenze zu Nigeria: Sir wird von der islamtistischen Terrorgruppe Boko Haram seit Jahren als Rückzugsort genutzt. Aus Angst verlassen Zehntausende Bewohner die Region. Beobachter gehen davon aus, dass Boko Haram die Situation vieler junger Männer in dieser Region ausnutze: Sie hätten kaum Chancen auf ein geregeltes Einkommen und ließen sich daher leicht anwerben.

Junge Menschen im Niger, Copyright: DW/K. Gänsler
Kaum Chancen auf ein geregeltes Einkommen - junge Menschen im NigerBild: DW/K. Gänsler

Eine Geburtenregulierung könnte langfristig helfen. Doch Mahazou Mahaman ist skeptisch. Er leitet 'Animas-Sutura', eine nichtstaatliche Organisation, die sich mit Fragen der Familienplanung beschäftigt. "Wir wollen Kinder haben, weil das auf sozialer Ebene von uns erwartet wird. In unserer Kultur wird eine Person daran gemessen, wie viele Kinder sie hat." Gerade auf dem Land seien Kinder nicht nur ein Statussymbol, sondern würden auch als Arbeitskraft gebraucht. Für ihre Eltern sind sie bis heute eine Art 'Lebensversicherung' oder 'Rente'.

Doch es fehlt auch an Aufklärung: Viele sind nicht vertraut mit den Möglichkeiten zur Schwangerschaftsverhütung. Und außerhalb der Städte ist für viele Frauen der Weg zur nächsten Klinik zu weit. Mahazou Mahaman nimmt aber noch eine andere Gruppe in die Pflicht, die religiösen Meinungsführer. "Sie sehen Verhütung als den Versuch des Westens, die Entwicklung des Landes zu blockieren." Im Niger bekennen sich mehr als 80 Prozent der Einwohner zum Islam. Familienplanung lehnen viele ab.

Mahazou Mahaman, Copyright: DW/K. Gänsler
Mahazou Mahaman fordert bessere Gesundheitsbedingungen für Mutter und KindBild: DW/K. Gänsler

"Dabei verbessert Familienplanung die Gesundheit von Mutter und Kind", sagt Mahazou Mahaman. Mit diesem Argument will er die Leute überzeugen, verantwortungsbewusst zu handeln. Das will auch Mariama Souley, denn ihr liegt das Wohl ihrer Tochter am Herzen. Deshalb möchte sie in den kommenden Monaten ganz allein für Halimatou da sein. Nach zwei bis drei Jahren schließt sie ein weiteres Kind aber nicht aus: "Das liegt an der Gnade Allahs", sagt sie und kichert.