1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Gut, dass du am Telefon warst"

Heiner Kiesel24. September 2016

Seit 40 Jahren setzt sich der Weiße Ring für Verbrechensopfer ein - und hat einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel begleitet. Auch auf internationaler Ebene ist der Verein zu einerflussreichen Stimme geworden.

https://p.dw.com/p/1K6mX
Symbolbild Gewalt gegen Frauen (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Ein paar Schritte noch hat Gerd Müller vor sich, dann verlässt er die heile Welt und bleibt doch in seiner in Eiche rustikal eingerichteten Parterrewohnung im beschaulichen Mainz-Laubenheim. Der 69-Jährige führt in einen Raum mit Couch und einer Büroecke mit PC. "Hier sitze ich einmal die Woche für drei Stunden am Opfertelefon", sagt der schlanke, gebräunte Pensionär und zieht die Tür hinter sich zu. Müller macht sich bereit für eine Schicht voller Gewalt, Verzweiflung und Hoffnung. "Danach bin ich platt", meint er und fährt den Computer hoch. Er ist einer von 81 ehrenamtlichen Mitarbeitern am Opfertelefon des Weißen Rings.

Gerd Müller (Foto: Heiner Kiesel)
Gerd Müller war mal Polizist - heute kümmert er sich um die Opfer von StraftatenBild: DW/H. Kiesel

"Es rufen zu 80 Prozent Frauen an und oft geht es um häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch", schätzt Müller. Oft sei er der erste, bei dem sie sich trauen, von den Übergriffen zu erzählen. "Vielleicht haben die nur dieses einzige Mal die Kraft, davon zu sprechen, da muss ich voll bei der Sache sein", ist er sich bewusst. Seit sieben Jahren gibt es die bundesweite Hotline für die Betroffenen von Straftaten, fast 100.000 Gespräche wurden seitdem darüber geführt. Und seit einem Jahr hebt auch Müller den Hörer ab, hört zu und versucht den Opfern zu helfen. Früher war er bei der Kriminalpolizei, da ging es immer mehr um die Täter. "Das war mir damals schon nicht genug", erinnert er sich.

40 Jahre im Dienst der Opfer

Dr. Helgard van Hüllen (Foto: Weisser Ring)
Die Juristin Helgard van Hellen ist im Vorstand des Weissen Rings und Vizevorsitzende der europäischen Opferhilfeorganisation EVSBild: Weisser Ring

Dass Gerd Müller sich dann beim Weißen Ring engagiert hat, ist kein Zufall. Die Organisation ist schließlich in seiner Heimatstadt Mainz gegründet worden. Das ist jetzt 40 Jahre her. Maßgeblich daran beteiligt war der Fernsehmoderator Eduard Zimmermann, der 30 Jahre lang die bekannte Kriminalsendung "Aktenzeichen XY-ungelöst" für den Fernsehsender ZDF, in der Stadt Mainz, gestaltet hat. Laut Satzung ist es das Ziel des Weißen Rings, für die Belange der Geschädigten von Straftaten "im Einzelfall als auch im Allgemeinen" öffentlich einzutreten.

Es hat sich viel getan seit der Gründung. "Die Behandlung von Opfern in der Polizei und Justiz hat sich grundlegend geändert, da gibt es eine Kehrtwende um 180 Grad", sagt Müller zufrieden. Der deutsche Verein ist zu einer einflussreichen Stimme für die Opfer geworden - auch auf internationaler Ebene. Rund 50.000 Mitglieder hat der Weiße Ring und über 3000 aktive, ehrenamtliche Helfer, die sich am Opfertelefon, der Onlinehilfe und in den Außenstellen engagieren.

Eduard Zimmermann (Foto: dpa)
Initiator der organisierten Opferhilfe: Fernsehmoderator Eduard ZimmermannBild: picture-alliance/ dpa

Dass sich die Lage der Opfer verbessert hat, ist nicht nur so ein Gefühl des Opferhelfers und ehemaligen Kriminalbeamten. Im Strafrecht und in der Strafprozessordnung tauchte der Begriff Opfer ursprünglich kaum auf, heute findet sich das Wort an gut vier Dutzend Stellen. "Das Opfer war früher eigentlich nur als Zeuge wichtig", stellt die Juristin und Vizevorsitzende des Weißen Rings, Helgard van Hüllen fest. Inzwischen haben die Betroffenen von Straftaten ein Recht darauf, im Prozess davon zu berichten, wie sich die Straftat auf sie persönlich ausgewirkt hat. Sie haben einen Anspruch auf Information, die den Strafvollzug der Täter angeht und auch darüber, welche Hilfen es für Opfer gibt – zum Beispiel beim Weißen Ring. Einen deutlichen Schub erhielten die Opferrechte durch eine EU-Richtlinie von 2012.

Neubewertung des Opfers in der deutschen Gesellschaft

"Das trägt alles dazu bei, dass sich die Opfer nicht mehr hilflos fühlen", freut sich van Hüllen. Der Gerichtsprozess trägt damit dazu bei, die psychischen Folgen einer Straftat zu mildern. Der Richter als Teil der Therapie? "Es dient der Wahrheitsfindung, wenn das Opfer stark ist", meint die Juristin dazu. Ihr Verband bietet deswegen auch eine Begleitung der Geschädigten während des Verfahrens an, vermittelt psychologische und juristische Beratung. Als Lobbyorganisation versucht die Organisation, die Gesetzgebung im Sinne der Opfer zu beeinflussen.

Holocaust-Mahnmal in Berlin (Foto: dpa)
Fest verankerte Erinnerungskultur in Deutschland - Holocaust-Mahnmal in BerlinBild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Der Weiße Ring trifft dabei auf offene Ohren. Denn in der gesellschaftspolitischen Wahrnehmung hat der Begriff des Opfers eine dramatische Wandlung vollzogen. Das hat viel mit der Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus zu tun. Die Deutschen mussten sich über ihren Umgang mit den Opfern der Diktatur, dem Holocaust klar werden. Respekt und Aufmerksamkeit, die hier eingefordert wurden, hatten Auswirkungen auch auf den Umgang mit Opfern aus anderen Kontexten. Es gehört seither zur bundesrepublikanischen Ethik, sich auf ihre Seite zu stellen. Es passt, dass der Weiße Ring zu einer Zeit gegründet wurde, Mitte der 1970er Jahre, als sich die politischen Eliten zu einer klaren Erinnerungskultur und –arbeit bekannt haben.

Der erste Schritt zur Hilfe

Gerd Müller hat jetzt alles parat für seine Schicht am Opfertelefon. "Die Opferformulare, in denen ich die Gespräche dokumentiere, Datenbanken, über die ich Hilfsangebote und die Außenstellen des Weißen Rings finde." Die ehrenamtliche Tätigkeit halte ihn auf dem Laufenden, was Computer und Technik anbelangt, sagt er ganz pragmatisch.

Er ist ein Jahr lang für diese Tätigkeit ausgebildet worden und muss regelmäßig zu Weiterbildungen. "Da geht es um neue Formen von Gewalt, aber auch darum, mit dem umzugehen, was ich hier zu hören bekomme", sagt der Ex-Kriminalbeamte. Er klemmt sich das Bluetooth-Headset hinter das Ohr, ihm stehen jetzt acht, vielleicht auch zwölf Telefongespräche bevor - mit Menschen, die nicht mehr weiter wissen mit ihrer Gewalterfahrung. Warum tut er sich das an? "Danach hast du fast immer das Gefühl, dass es gut war, dass gerade du heute am Telefon warst."