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236 Minuten Freizeitstress

Richard A. Fuchs, Berlin 27. August 2015

Deutschlands Bürger sind gestresst. Das zeigt der Freizeit-Monitor, eine jährliche Umfrage der Stiftung für Zukunftsfragen. Kritisch ist auch der Umgang mit Medien: Sie dienen der Erholung, verursachen aber auch Stress.

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Am Besten alles gleichzeitig: Der Medienkonsum ist Lieblingsbeschäftigung der Deutschen - und einer der Hauptstressfaktoren
Bild: Getty Images/S. Gallup

Statistisch gesehen hat jeder Deutsche täglich 236 Minuten Freizeit. Eine Zeit, die die arbeitende Bevölkerung vor allem in den frühen Abendstunden nutzt. Doch statt Erholung und Entspannung fühlen sich immer mehr Bürger im permanenten Freizeitstress, sagt der Freizeit-Monitor 2015, eine von der Stiftung für Zukunftsfragen erhobene jährliche Meinungsumfrage, die von British American Tobacco finanziert wird. Jedes Jahr werden dafür 2000 Personen ab 14 Jahren befragt. "In sämtlichen vergleichbaren Situationen fühlen sich die Bürger gehetzter, genervter und angespannter als vor 30 Jahren", sagt Professor Ulrich Reinhardt, wissenschaftlicher Leiter der BAT-Stiftung.

Reinhardt, der die Umfrage-Ergebnisse am Donnerstag in Berlin vorstellte, sieht vor allem das sprunghaft angestiegene Freizeitangebot als einen der Hauptgründe für die permanente Überforderung. Die Anzahl der Sportarten habe sich seit 1980 verfünffacht, die Anzahl der Shoppingmall-Quadratmeter versechsfacht, die Anzahl der neuen Bucherscheinungen klettert jedes Jahr auf neue Rekordstände. Um nichts zu verpassen, gelte es, sich stets zwischen einer Fülle von Möglichkeiten zu entscheiden.

Infografik Freizeit-Monitor Was die Deutschen stresst

Am Besten alles gleichzeitig - und ohne andere

Die diesjährige Ausgabe der seit mehr als 30 Jahren durchgeführten Meinungsumfrage zeigt auf, dass Muße oder gar Langeweile nur noch bei Rentnern einen kleinen Teil der Freizeit prägt. Vor allem für die 14 bis 24-Jährigen sei es dagegen wichtig, jede Minute produktiv zu nutzen. Sport machen, zwischendurch auf dem Smartphone E-Mails checken, Freunde treffen und mit der Familie telefonieren: Immer mehr Bürger landen nach Feierabend im Hamsterrad der eigenen Bedürfnisse. Dabei legt die Umfrage nahe, dass sich Frauen gestresster fühlen als Männer, insbesondere bei dem Gefühl, nicht allem gerecht werden zu können. Männer stresst dagegen eher Schlafmangel, aber auch Situationen, in denen es um die eigene Lebensplanung geht.

"Beim Vergleich zwischen den Generationen fällt auf, dass die junge Generation deutlich gestresster ist als die über 65-Jährigen", erläutert Reinhardt. Vor allem der eigene Freizeitkonsum, die persönlichen Verpflichtungen, Rücksichtnahme auf Dritte und der permanente Entscheidungsdruck werden dabei als besonders belastend empfunden. Ein Stör- und Stressfaktor rangiert bei allen Generationen gleichermaßen weit oben: die Mitmenschen. Beim Wunsch, sich zu erholen und Ruhe zu bekommen, stören viele Bürger vor allem andere. Das gelte insbesondere, wenn ungeplante Wartezeiten wie Staus dazukommen, ebenso wie Warteschlangen vor Veranstaltungen.

Medien sind Top-Freizeitbeschäftigung

Erholen können sich die Deutschen nach wie vor beim Fernsehen. "Seit 25 Jahren liegt Fernsehen unangefochten auf dem ersten Platz der häufigsten Freizeitbeschäftigungen der Bundesbürger", erläutert Reinhardt. Aber auch Radio hören und zu Hause telefonieren gehören noch immer zu den Top-Freizeitbeschäftigungen, was sich der Studienleiter besonders mit der Trägheit und der Routine des Alltags erklärt.

Dabei dominiert der Medienkonsum das Freizeitverhalten der Bürger insgesamt. Die Mehrheit der 14 am häufigsten genannten Freizeitbeschäftigungen haben etwas mit Medien zu tun, wie im Internet surfen, Computer spielen oder MP3s hören. Während das Internet zunehmend wichtiger wird, setzt die Mehrheit der Deutschen noch immer am liebsten aufs klassische Fernsehen. Neun von zehn Bundesbürgern sagen ganz klar, sie wollten sich nach der Arbeit berieseln lassen. Nur für drei Prozent der Befragten scheint es wichtig, sich gezielt durch Streaming-Dienste ganz bestimmte Sendungen On-Demand anzuschauen. Besonders erstaunlich, so der Studienleiter: Auch das vielfach totgesagte Radio scheint in neuer Form als Freizeitangebot eine Renaissance zu erleben. Via Smartphone und mit abertausenden Internetradio-Sendern bestückt erobert das Medium auch die Herzen junger Hörer.

Infografik Freizeit-Monitor Wobei die Deutschen sich erholen

Insbesondere seit dem Jahr 2010 ist laut Umfrageergebnissen der Internetkonsum in der Freizeit um 15 Prozent angestiegen. 99 Prozent der Jugendlichen sind online, aber auch 70 Prozent der jüngeren Senioren. Kein Wunder, so Studienleiter Reinhardt, dass gerade bei den jungen Erwachsenen und Singles in den Top-10- Freizeitaktivitäten keine persönlichen und sozialen Aktivitäten mehr vorkämen: Ein Zwang zum Online-Sein, der viele stresst. Ebenfalls fragwürdig sei, dass Eltern sich laut Umfrageergebnissen mehr mit dem Internet als mit den eigenen Kindern beschäftigen würden.

Deutsche sind Sportmuffel

Immer seltener treffen die Bürger dagegen Freunde. Und auch Aktivitäten außerhalb der eigenen vier Wände leiden. Sport scheint out zu sein, ebenso wie Besuche in Einrichtungen der Hochkultur: "Die Mehrheit der Bundesbürger geht niemals ins Theater, niemals in die Oper und niemals zu einem Klassikkonzert." Auch ehrenamtliche Tätigkeiten, wie Mithilfe in Vereinen, lehnen drei von fünf Bürgern in ihrer Freizeit ab. Immer populärer werden dagegen Straßenfeste, Kino und Musik-Festivals.

Ausgepurzelt: Sport treiben, Fahrrad fahren und draußen aktiv sein, das wollen nur wenige Deutsche
Ausgepurzelt: Sport treiben, Fahrrad fahren und draußen aktiv sein, das wollen nur wenige DeutscheBild: picture-alliance/dpa/Daniel Peter

Dass der "Freizeitmarkt boomt", lesen die Forscher auch daran ab, dass freie Zeit zunehmend zur Konsumzeit geworden ist. "Es gibt kaum noch eine Aktivität, die nicht direkt oder indirekt etwas kostet", sagt Reinhardt. Dabei wird der traditionelle Einkaufsbummel in der Fußgängerzone immer häufiger vom Shopping-Glück im Netz abgelöst, legt die Studie nahe. Das tatsächliche Freizeitverhalten der Bürger steht so in krassem Gegensatz zu dem, was viele sich eigentlich als Erholung wünschen würden. Denn statt mehr Konsum und immer mehr Erlebnissen wünschen sich viele lustvolles Nichtstun, ebenso wie Ausschlafen und Geselligkeit in kleiner Runde. Statt vollen Freizeitkalendern wollen die meisten mehr Spontanität. Zwei Drittel aller Befragten wünschen sich, einfach mal wieder das zu tun, worauf sie gerade Lust haben. Ganz vorne rangiert bei diesen Wünschen, sich mit guten Freunden zu treffen. Ein Wunsch, den auch der Autor dieses Texts jetzt verspürt.

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