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1961: Mauerbau und heile Welt, Pille und Pilzköpfe

Susanne Spröer13. August 2019

Am 13. August 1961 wird der Grundstein der Berliner Mauer gelegt. Es ist das Jahr, in dem in Deutschland die Pille auf den Markt kommt. Und in Hamburg vier Jungs auftreten, die Musikgeschichte schreiben werden.

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Arbeiter erhöhen die Sektorensperre an der Bernauer Straße in Berlin im August 1961. (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten", sagt Walter Ulbricht, der Staatsratsvorsitzende der DDR, am 15. Juni 1961 auf einer internationalen Pressekonferenz in Ostberlin. Nicht einmal zwei Monate später spannen Bauarbeiter im Morgengrauen Stacheldraht auf den Straßen zu den West-Sektoren. Es ist der 13. August 1961. Ein Schicksalstag für die Deutschen. Die Berliner Mauer wird die Stadt für 28 lange Jahre in einen Ost- und Westteil trennen.

Eine Mauer trennt Familien

Mütter im August 1961 mit ihren Kindern am Stacheldraht, der Ost- von Westberlin trennt (Foto: ullstein - Hilde)
Am Morgen des 13. August 1961 waren fast alle Straßen, die aus der DDR nach Westberlin führten, gesperrtBild: ullstein - Hilde

Die Berliner stehen unter Schock. Mitten durch Berlin werde "die Sperrwand eines Konzentrationslagers" gezogen, sagt der damalige Berliner Bürgermeister und spätere Bundeskanzler Willy Brandt am selben Tag vor dem Abgeordnetenhaus. Genau 10.315 Tage bleibt die Berliner Mauer das Symbol für den Kalten Krieg und die Spaltung der Welt in zwei verfeindete Blöcke: die kapitalistischen Systeme im Westen und den Kommunismus im Osten. Mehr als 250 Menschen sterben bei dem Versuch, sie zu überwinden.

Es sind vor allem die dringend gebrauchten jungen Menschen, die der DDR 1961 davonlaufen: Jeder Zweite, der seit Jahresbeginn in den Westen geht, ist unter 25.

Heile Welt im Wirtschaftswunder

Die 17-Jährigen im Deutschland des Jahres 1961 sind 1944 geboren, mitten im Krieg: in zerbombten Städten oder auf dem Land unter Ausquartierten und Flüchtlingen. Manche haben als Baby gehungert, viele ihre Väter nie kennen gelernt. Aber an diese dunkle Zeit möchten vor allem die Eltern nicht mehr gern erinnert werden.

Eine deutsche Familie sitzt 1960 vor ihrem Fernsehgerät (Foto: picture-alliance / akg-images)
Eine deutsche Familie - versammelt vor dem FernseherBild: picture-alliance / akg-images

Denn jetzt ist Aufbruch angesagt. Während in der Planwirtschaft der DDR alle Arbeitskräfte – auch die Frauen – gebraucht werden, blüht in der Bundesrepublik das Wirtschaftswunder. Der West-Mann ist meist Alleinverdiener und freut sich, wenn er der Familie nicht nur ein Eigenheim mit Kühlschrank und Waschmaschine, sondern auch den Zelturlaub in "Bella Italia" bieten kann. Drei "K" umreißen die Rolle der Frau: "Kinder, Küche, Kirche".

Arbeitslose gibt es so gut wie keine, Firmen werben mit Geschenken um Lehrlinge. Vom Mauerbau erfahren die meisten Deutschen aus Radio, Fernsehen und Zeitung. Dort lesen sie auch von Juri Gagarin als erstem Mann im Weltraum und vom Eichmann-Prozess, bei dem in Jerusalem der ehemalige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt wird, als einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust. Seine Aussage, er habe "nur Befehle ausgeführt", sorgt für Gesprächsstoff an vielen Abendbrot-Tischen.

Nach dem Essen trifft sich die Familie vor dem Schwarz-Weiß-Fernsehgerät und schaut im einzigen Kanal Krimis oder Serien wie "Die Firma Hesselbach" über den launigen Alltag einer Frankfurter Verleger-Familie.

Schlager, Petticoat und "Lipsi"

Diesen Rückzug ins Eigenheim finden manche junge Menschen vor allem eins: langweilig. Denn sie wollen leben und das Leben spüren. Und dazu passt perfekt die wilde, laute Musik, die seit Mitte der 50er Jahre aus den USA kommt. Und bei der ein gewisser Elvis Presley so sexy die Hüften kreist, dass Mädchen in Ohnmacht fallen... "Halbstarke" werden die Rock 'n' Roll-Fans von vielen Erwachsenen genannt, denen die Typen in engen Jeans und Lederjacken nicht geheuer sind.

"Mit siebzehn" - gesungen von Peter Kraus

Der deutsche "Elvis" heißt Peter Kraus und rockt auf Deutsch, denn auch in Westdeutschland verstehen nur wenige Englisch. Der "Peter-Kraus-Starschnitt" aus der Jugendzeitschrift "Bravo" hängt als Poster über vielen Backfisch-Betten. "Backfische", wie junge Mädchen damals genannt werden, schwärmen außerdem für Filmstars wie Sophia Loren, Audrey Hepburn und Peter Alexander. Oder Caterina Valente, die mit dem Schlager "Ein Schiff wird kommen" einen der Top-Hits des Jahres 1961 landet.

In der DDR ist Rock 'n' Roll verboten, das "Auseinandertanzen" gilt als unanständig, außerdem kommt die Musik aus den kapitalistischen USA. Im thüringischen Suhl gehen mehrere Jugendliche dafür ins Gefängnis. Sozialistische Jugendliche sollen sich lieber im "Lipsi" wiegen - einem eigens als Alternative zum Rock 'n' Roll erfundenen Paartanz. Sich sittsam an den Händen haltend bemühen sich Jungs im Anzug und Mädchen im Petticoat, einander nicht zu nahe zu kommen. Denn die Tanzlehrer haben ein strenges Auge auf sie, im Osten wie im Westen.

Reinhold Grüning

Doch die züchtigen Zeiten werden bald vorbei sein. Schon jetzt werfen Clubgänger in Hamburg einen Blick in die Zukunft: Im "Indra" treten vier Typen aus Liverpool mit scherbelnden Rock 'n' Roll-Coversongs auf. Noch kennt sie kaum jemand, aber bald werden Jungs und Mädchen auf der ganzen Welt ihnen zu Füßen liegen: Es sind die Beatles, die im Sommer 1962 mit "Love me do" ihre beispiellose Erfolgsgeschichte starten werden.

Liebe ist… "Unzucht"

Anfang der 60er Jahre ist die deutsche Gesellschaft ein Dampfkessel, der brodelt und pfeift - aber explodieren wird er erst ein paar Jahre später. Auch die Lust soll unterdrückt und Liebe darf auf keinen Fall öffentlich gezeigt werden. Händchen halten ist das höchste der Gefühle. Masturbation, Homosexualität und Sex außerhalb der Ehe werden als "Unzucht" geächtet und sind zum Teil sogar strafbar. Zwar kommt am 1. Juni 1961 die Anti-Baby-Pille auf den Markt, aber sie wird zunächst nur verheirateten Frauen verschrieben. Denn man hat Angst, dass die Pille zu sexueller Freizügigkeit und häufig wechselnden Partnern führen könnte.

Die ersten Twistschüler in einer Frankfurter Tanzschule, aufgenommen im November 1961. (Quelle: picture-alliance/dpa)
Rhythmisch drehen statt berühren: Tanzschüler 1961 in Frankfurt am Main beim TwistenBild: picture-alliance/dpa

Deshalb lassen hunderttausende verzweifelte Schwangere noch immer bei "Engelmacherinnen" illegal abtreiben. Wer Liebe leben will, dem bleibt also nur eins: die Hochzeit. Besonders früh geheiratet wird in der DDR, oft schon mit Anfang zwanzig: Denn auch wenn junge Paare darauf noch jahrelang warten müssen, oft ist es hier die einzige Möglichkeit, überhaupt an eine eigene Wohnung zu kommen.

Junge Menschen in beiden deutschen Staaten schnürt 1961 ein enges gesellschaftliches Korsett ein. Doch am Horizont zeichnen sich schon Veränderungen ab, die alles auf den Kopf stellen werden. Und die 17-Jährigen von 1961 werden mittendrin sein.

Dieser Artikel gehört zum DW Special "Mit 17... Das Jahrhundert der Jugend", das 2014 zum 100. Jahrestag des Beginns des I. Weltkrieges veröffentlicht wurde und in einem Streifzug durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts das Leben junger Männer und Frauen nachzeichnet.