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Menschenjagd am PC

19. Dezember 2010

Ein neues Computerspiel sorgt derzeit für viel Aufregung und Kritik. Bei "1378(km)" wird die Flucht aus der DDR nachgestellt. Mit flüchtenden Zivilisten – auf die geschossen werden darf.

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Jens M. Stober mit seinem Computerspiel (Foto: dpa
Der Entwickler und sein Spiel: "1378(km)"Bild: picture alliance / dpa

Monatelang hat der Medienkunststudent Jens Stober an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (HfG) an dem Mauerspiel "1378(km)" gebastelt. Passend zum 20-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung sollten die Konflikte entlang der innerdeutschen Grenze in den Jahren der deutschen Teilung thematisiert werden. Das Spiel soll einen Informations- und Bildungsanspruch erfüllen. Das scheint auch bitter nötig, denn von der deutschen Geschichte haben viele Jugendliche erschreckend wenig bis keine Ahnung. Sie halten die Mauer für eine Grenze wie jede anderen auch, für die man lediglich besondere Dokumente brauchte, um auszureisen. Schießbefehl? Mauertote? Todesstreifen? Nur wenige Schüler haben behalten, was sie im Geschichtsunterricht gelernt haben.

Server brach zusammen

Das Spiel kann seit kurzem im Internet kostenlos heruntergeladen werden. Der Server ist seitdem zeitweise zusammengebrochen. Der Spieler kann dabei wahlweise in die Rolle eines "Republikflüchtlings" oder eines Grenzers schlüpfen - und abhängig von der gewählten Rolle muss er dann die Grenzanlagen überwinden beziehungsweise Flüchtlinge verhaften oder erschießen, um den "Grenzdurchbruch" zu verhindern.

Junger Mann sitzt vor einem Monitor, auf dem das Computerspiel '1378(km)' zu sehen ist (Foto: dpa)
Bild: picture alliance / dpa



Opferverbände empört

Angehörige, die ihre Kinder, Ehepartner, Eltern oder Geschwister in der Realität tatsächlich durch Schüsse von Grenzsoldaten an der Mauer verloren haben, sind über das Spiel empört. So haben sich Opferdachverbände gleich mit Protesten an die HfG in Karlsruhe gewandt. Der Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, erstattete Anzeige wegen angeblicher Gewaltverherrlichung.

Darf man also - und sei es nur auf dem Computerbildschirm - den DDR-Grenzer mimen und Mauerflüchtlinge erschießen? Die Staatliche Hochschule für Gestaltung selbst bewirbt das Spiel als einen Beitrag zur politischen Bildung. "Durch die persönliche Identifikation als Republikflüchtling oder Grenzsoldat und das intensive Kennenlernen der Grenzorte soll auf neue Art und Weise bei der jungen Generation das Interesse zur Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Geschichte geweckt werden", erklärt die HfG.

Zweifel am pädagogischen Nutzen

Was die einen für einen sinnvollen Weg halten, auch Jugendliche für Zeitgeschichte zu interessieren, verurteilen andere. Für Medienpädagogen und Jugendexperten ist "1378(km)" ein zynisches Spiel - und obendrein zutiefst menschenverachtend. Helga Kuhn, Pressesprecherin bei der UN-Kinderhilfsorganisation UNICEF, kann "bei diesem Computerspiel nicht erkennen, was der historische oder auch pädagogische Nutzen sein soll, damit kann man Kindern nicht beibringen, wie die Situation damals war. Also dass man es eben nicht schafft, so etwas wie Mitgefühl bei den Kindern zu wecken". Das Spiel nun auch noch als Kunst zu bezeichnen, wie es die Staatliche Hochschule für Gestaltung tut - Helga Kuhn von UNICEF ist entsetzt. Seit langem schon appelliert UNICEF vielmehr an die Politik und die Wirtschaft, Gewalt verherrlichende Computerspiele stärker zu reglementieren.

Schulen sollen mehr aufklären

Videokunst an der HfG (Foto: Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe)
Videokunst an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung KarlsruheBild: HFG

Dass man über das Problem solcher Computerspiele immer mal wieder redet, aber es nicht grundsätzlich angeht, ist für Helga Kuhn eines der Hauptprobleme. Sie fordert mehr Anstrengung und bessere Ausstattung von Schulen. Lehrer müssten entsprechend fortgebildet werden, damit sie den Kindern besser die historische Wirklichkeit vermitteln können. Ähnlich sehen das auch Vertreter von Sozialverbänden wie der Caritas. So warnen davor, dass gerade junge Leute aus bildungsfernen Schichten besonders anfällig für Gewalt verherrlichende Inhalte seien, weil hier schnelle Lösungen angeboten würden, um die komplexe Realität leichter zu bewältigen.

Michaela Hofmann, Pädagogin beim Caritasverband in Köln, weiß: "Bei Menschen, die über wenig Bildung verfügen, ist die Frustrationstoleranz eine geringere. Und eher gelernt wird, dass man sich mit Gewalt, mit Stärke, die ja nicht als Gewalt verstanden wird, durchsetzen kann." Historische Aufklärung, das könne man auch mit einem Film machen, in dem man miteinander in Dialog eintreten kann, aber ein Spiel, wo man eine Pistole in die Hand bekomme, das ist für Michaela Hofmann geschmacklos.

Debatte versachlichen

"Der Irrsinn der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze wird so leicht nachvollziehbar vermittelt, da er direkt in der Ich-Perspektive nachempfunden werden kann", meint dagegen der Erfinder von "1378(km)", Jens Stober. Begriffe wie Todesstreifen, Schießbefehl, Selbstschussanlagen, Republikflucht und die Verurteilung von Grenzsoldaten würden so nahegebracht.

Die Premiere des Computerspiels am 10. Dezember 2010 an der HfG Karlsruhe fand reges Interesse. Rund 200 Gäste informierten sich über das Spiel und die Intention des Spiele-Entwicklers. Außerdem nahmen die Professoren Uwe Hochmuth, Michael Bielicky und Heiner Mühlmann Stellung zum Spiel und zur derzeitigen Mediendebatte. Der 24-jährige Autor von "1378(km)" hatte übrigens bereits mit "Frontiers - An der Grenze Europas" ein Spiel mit ähnlichem Inhalt veröffentlicht - da sollte man als marokkanischer Flüchtling nach Spanien gelangen oder eben dies als Grenzer mit allen Mitteln verhindern.

Autor: Peter Kolakowski
Redaktion: Conny Paul