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"Öffentlich über Trauma sprechen"

Dana Regev / das 16. November 2015

In Europa gedenken Menschen der Opfer der Anschläge in Frankreich. Die Pariser versuchen, mit Ängsten und Erinnerungen fertigzuwerden. Psychologen raten zu Ehrlichkeit bei der Trauma-Bewältigung - auch gegenüber Kindern.

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Ein trauernder Mann nach den Anschlägen in Paris (Foto: Reuters)
Bild: Reuters/Ch. Hartman

"Was passiert ist, berührt uns sehr persönlich", sagte ein französischer Schauspieler, der in der Nähe der Konzerthalle Bataclan wohnt. "Die Terroristen haben uns mitten im Leben getroffen - jeder von uns hätte unter den Toten sein können."

Viele Franzosen fühlen sich nach den Anschlägen alleingelassen. Ein 23-jähriger Überlebender des Massakers in der Konzerthalle sagte Reportern: "Sie können sich nicht vorstellen, wie hilflos man sich fühlt. Hätte ich eine Waffe gehabt, hätte ich das Feuer eröffnet, statt einfach dazusitzen und auf den Tod zu warten."

Ein anderer Pariser verließ eines der Cafés, die zur Zielscheibe des Terrors wurden, nur kurz vor den Angriffen: "Das sind alles Orte, an denen ich mich oft aufhalte. Jetzt wollen wir einfach hierher kommen und Blumen mitbringen... Aber es ist sehr beängstigend."

Trauma auch aus zweiter Hand

Der Israeli Gal lebt in Paris, war zum Zeitpunkt der Anschläge aber nicht in der Metropole. "Ich bin sehr erschrocken. Als Israeli weiß ich, dass einen solche Katastrophen traumatisieren können, sogar wenn man nicht direkt davon betroffen ist", sagt er im Gespräch mit der DW.

Das bestätigt auch Trauma-Experte Jan Kizilhan. "Dieses Phänomen heißt sekundäres Trauma. Sogar wenn jemand einem nur von einem negativen Ereignis berichtet, kann einen das traumatisieren - unabhängig davon, dass man nicht selbst davon betroffen ist", erklärt der Psychologe von der Dualen Hochschule Villingen-Schwenningen in Baden-Württemberg.

Psychologe Jan Kizilhan (Foto: privat)
Jan Kizilhan: Auch mit Kindern über Terror sprechenBild: Jan Kizilhan

"Selbst wenn man etwas nur im Fernsehen sieht, ist es möglich, Ängste zu entwickeln, die pathologische Ausmaße erreichen können. Daraus können soziale Probleme entstehen, zum Beispiel, die Angst, zur Arbeit zu gehen, Kommunikationsschwierigkeiten und Beziehungskonflikte."

Wie kann man am besten mit einem nationalen Trauma wie den verheerenden Terroranschlägen umgehen? "Weil der Terror ein kollektives Ziel hat", sollte auch die Aufarbeitung des Traumas auf der Ebene der Gemeinschaft stattfinden, meint der Psychologe. Wenn westliche demokratische Gesellschaften zur Zielscheibe würden, sei der beste Umgang mit diesem Gefühl der Bedrohung, geschlossen zusammenzustehen.

"Gefühle nicht unterdrücken"

Es ist wichtig, sich solidarisch zu zeigen - und offen über das Trauma zu sprechen. In erster Linie müssen wir uns überhaupt bewusst sein, dass es diese Art von Terror gibt", so Kizilhan. "Dann gilt es - sowohl für Erwachsene als auch für Kinder - zu unterstreichen, dass Muslime nicht Terroristen sind, sondern dass eine bestimmte Organisation namens 'Islamischer Staat' hinter den Anschlägen steckt."

Kizilhan, der Erfahrung in der Arbeit mit Konfliktregionen wie Irak, Israel und den Palästinensergebieten hat, rät den Menschen, über traumatische Ereignisse öffentlich zu sprechen. Diese sollten Teil des gesellschaftlichen Diskurses sein. Es bringe nichts, diese Themen zu meiden: "Das ist auch auf politischer Ebene relevant - für Regierungen und Ministerien."

Frankreich nach den Terroranschlägen: Anteilnahme vor der französischen Botschaft in Berlin (Foto: Reuters)
Anteilnahme vor der französischen Botschaft in BerlinBild: Reuters/H. Hanschke

Niemand sollte nach Katastrophen die eigenen Gefühle unterdrücken: "Wenn man diese Gedanken, Ängste und Sorgen nicht freilässt, sondern sie zu einem Tabu macht, ist das auf psychologischer Ebene überhaupt nicht hilfreich. Es hilft auch nicht beim Heilungsprozess einer Gesellschaft."

Der Israeli Gal sagt, er und seine Freunde versuchten, immer ehrlich zu sein und ihre Gedanken über die Ereignisse in Paris miteinander zu teilen. "Gerade weil ich aus dem Ausland komme, habe ich das Gefühl, meinen Freunden zeigen zu können, dass das alles nicht nur ein französisches Problem ist. Menschen auf der ganzen Welt müssen mit solchen Traumata umgehen."

Zurück zur Normalität

Aus der Sicht des Psychologen Kizilhan sollten politische Themen nicht nur bei Erwachsenen eine Rolle spielen. "Wir sollten mit unseren Kindern darüber sprechen. Medien, Schulen und Universitäten müssen auf die neue Situation im Bereich des internationalen Terrorismus vorbereitet sein."

Die Bürger müssten außerdem wissen, was ein Trauma ist, wie man es identifiziert und wie man damit umgeht. Die weit verbreitete Annahme, dass Kinder zu jung sind, um die Bedeutung eines Terroranschlags zu begreifen, sei nicht angemessen: "Kinder sind sehr schlau und wissen genau, was passiert", so der Trauma-Experte. "Wenn man nicht mit ihnen spricht, bekommen sie vielleicht falsche Informationen oder, noch schlimmer, gar keine, was erst recht unkontrollierbare Ängste auslösen kann. Aber natürlich sollte man solche Gespräche auf einer Ebene führen, die Kindern verständlich ist."

Das Wichtigste sei, nach so einem Anschlag zur Normalität zurückzufinden. "Wir sollten ausgehen, Spaß haben, glücklich sein - all das tun, was wir auch davor getan hätten. Das gilt für Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Zunächst müssen wir den Menschen grundsätzliche Informationen über Traumata und deren psychologische Folgen bieten. Doch danach müssen wir ihnen helfen, damit fertigzuwerden."

Denn wenn wir nicht mehr fähig seien, ein normales Leben zu führen, habe der Terror gewonnen: "Und das ist schließlich genau das, was die Terroristen wollen, oder?"