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Über das Gehen und Stehen

Stephan Hille14. Oktober 2003

Moskau boomt. Die russische Hauptstadt verändert sich rasant. Pulsierende Hektik bestimmt den Alltag. Entspannung suchen viele Russen im Stehen.

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Die Moskauer Metro ist wahrscheinlich die schnellste auf der Welt. Ganz sicher aber sind die Rolltreppen, die in die Tiefe führen, die schnellsten. Die Moskowiter nutzen sie mit Routine und souveräner Leichtigkeit. Während selbst die alten Babuschkas kaum Schwierigkeiten damit haben, ringen Touristen nicht selten mit dem Gleichgewicht beim Besteigen der bewegten Holzstufen. Im Moskauer Untergrund herrscht immer Gedränge. Im Minutentakt spucken die U-Bahnen gewaltige Menschenmengen aus, die entweder schnell nach oben wollen oder unterirdisch die Station wechseln. Interessanterweise gibt es kaum Zusammenstöße.

Instinktsicher finden alle rasch ihren Weg, auch dann, wenn eine Gruppe nach vorne will und dabei eine noch größere Gruppe passiert werden muss, deren Bestimmung sie in diesem Moment von links nach rechts führt. Man fädelt sich ein und wieder aus.

Schmerzende Ellenbogen

Überraschenderweise ist das Vorwärtskommen auf den Gehwegen häufig ungleich schwieriger und ruppiger. Ausweichen gilt offenbar als unschick, was an den Schultern und Ellenbogen nicht selten schmerzlich zu spüren ist. In Verzweiflung kann man geraten, wenn man vor einem Gehende passieren will. Russen haben dieses Talent, einem ständig vor den Füßen zu laufen. Will man rechts vorbei, zieht es sie auch nach rechts, versucht man es über links, scheint eine geheimnisvolle Kraft sie in diesem Moment ebenfalls nach links zu steuern. Dahinter muss kein böser Wille liegen, doch die genaue Ursache für dieses schon häufig festgestellte Phänomen können wohl nur Ethnologen klären.

Dass die Russen auch häufig einfach irgendwo in Gruppen stehen, ist leichter zu erklären. Siebzig Jahre Kommunismus und die damit verbundenen Schlangen vor den Geschäften haben die Russen abgehärtet. Langes Stehen scheint ihnen kaum etwas auszumachen. Als der erste McDonald’s Anfang der neunziger Jahre am Puschkin-Platz aufmachte, bildeten sich Schlangen, die mehrfach um den Platz herumführten. Dreieinhalb Stunden für einen Burger anzustehen, war für die Moskowiter eine Selbstverständlichkeit.

Ein Bierchen zischen

Doch auch ohne Not stehen Russen offenbar gerne. Selbst bei widrigen Witterungsverhältnissen. Schon morgens kann man überall Männer beobachten, die versonnen mit einer Flasche Bier allein oder auch in einer Gruppe stehen. Noch populärer scheint das gemeinsame Stehen nach dem Feierabend zu sein.

Zu Sowjetzeiten gab es die "Piwnaja" , sogennante Bierkneipen wo man im Stehen schnell ein Bier - wenn es denn gerade welches gab - zischen konnte. Sitzen oder auch nur der kleinste Hauch von Komfort waren auch hier nicht vorgesehen. Die "Piwnaja" war einzig auf das Bedürfnis ausgerichtet, schnell ein oder mehrere Biere herunterzustürzen. Meist konnte man den Wirt gar nicht sehen. Der Bierkrug wurde durch eine Klappe oder kleines Fenster herausgereicht. Inzwischen hat sich eine vielfältige Gastronomieszene entwickelt, die "Piwnaja" gibt es nicht mehr. Da es die deutsche Eckkneipe in Russland nicht gibt und sich das Gros der Bevölkerung den Gang ins Restaurant nicht leisten kann, kaufen sich viele Russen die Flasche Bier am Kiosk und halten ihren Schwatz auf der Straße. Manchmal stundenlang, ohne dass es ihnen etwas ausmacht. Die Russen haben einfach ein besonderes Stehvermögen.