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Das Kandidatenkarussell dreht sich

Sabine Hartert4. April 2012

Ägypten bekommt eine neue Verfassung. Die Muslimbrüder und Salafisten stellen die Mehrheit in der verfassungsgebenden Versammlung, die Opposition befürchtet eine Islamisierung. Ist diese Angst berechtigt?

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Muslimbrüder demonstrieren in Kairo un d halten Koranexemplare hoch (Foto: AP)
Muslimbrüder demonstrieren in KairoBild: AP

Ägypten ist seit dem Sturz des früheren Präsidenten Hosni Mubarak im Februar 2011 dabei, sich neu zu finden. Ein neues Parlament ist gewählt, doch es hat aus Sicht säkularer und liberaler Ägypter sowie ausländischer Beobachter einen Makel: Die Mehrheit der Abgeordneten sind dem islamischen oder auch streng islamischen Lager zuzurechnen. In der verfassungsgebenden Versammlung sieht es ähnlich aus. Im Frühsommer wird ein neuer Präsident gewählt. Die Tatsache, dass die Muslimbrüder, die im Parlament die Mehrheit haben, nun einen eigenen Kandidaten für das höchste Amt im Staat gekürt haben, sorgt für Empörung in Ägypten.

Die Sorge, dass Ägypten in den radikalen Islam abgleitet, scheint groß. Nicht nur in Europa sei man wegen einer möglichen Islamisierung des Landes besorgt, sagt Björn Bentlage, Islamwissenschaftler an der Universität Halle im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Auch viele Ägypter, und sogar explizit Religiöse, haben Angst vor einem radikalen Islam. Das wird auch dort durchaus als Gefahr betrachtet", meint der Islam-Experte.

Björn Bentlage (Foto: Privat)
Björn Bentlage: Auch religiöse Ägypter sehen radikalen Islam als GefahrBild: privat

Andererseits ist Ägypten bereits ein weitgehend islamischer Staat. Nach Ansicht des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer, der im Exzellenzcluster "Politik und Religion" der Universität Münster tätig ist, sei der Islam vor allem in der Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten "viel sichtbarer geworden". Zwar seien vollverschleierte Frauen immer noch die Ausnahme, aber immer mehr Frauen trügen Kopftücher. Ein weiteres offensichtliches Anzeichen sei die Trennung der Geschlechter, die im öffentlichen Raum weit fortgeschritten sei.

Verfassung entscheidet über Verhältnis von Staat und Religion

#video#Nun richtet sich der Blick auf die neue Verfassung, die innerhalb von sechs Monaten von der verfassungsgebenden Versammlung vorgelegt werden muss. Darin geht es nicht nur um das Verhältnis von Staat und Religion und den Einfluss der Scharia, sondern auch um die künftige Rolle des Militärs. Seit dem Rücktritt Mubaraks regiert der Oberste Militärrat, der die alte Verfassung von 1971 außer Kraft gesetzt hatte. Das bedeutet, dass es für die Präsidentschaftskandidaten auch Unwägbarkeiten gibt. Das Militär wiederum erhofft sich, dass bei der Machtübergabe an den neu gewählten Präsidenten spätestens im Juli die Ausarbeitung der neuen Verfassung weit fortgeschritten ist. Bentlage vermutet, dass es um einen Kompromiss zwischen Militärrat und den neuen Machthabern geht, "der es dem Militärrat erlaubt, abzutreten, sich aber zugleich Privilegien sowie einen Schutz vor Strafverfolgung zu sichern."

Das künftige Verhältnis von Staat und Religion scheint die Ägypter jedoch wesentlich stärker zu bewegen. Aus Protest gegen die Zusammensetzung der verfassungsgebenden Versammlung - etwa 70 Prozent gehören dem islamischen Lager an - haben sich Vertreter der koptischen Kirche, der Liberalen und der Linken aus dem Gremium zurückgezogen. Die Muslimbrüder wiederum haben nach starkem öffentlichen Druck angekündigt, zehn ihrer Plätze an nicht-islamische Kandidaten abzugeben, um "wieder mehr Spielraum für Kompromisse zu gewinnen", sagt Bentlage.

Mehr Freiheiten oder mehr Scharia?

Die Scharia ist bereits seit 1971 in Artikel 2 der Verfassung verankert und ist demnach Quelle der Gesetzgebung. Außerdem ist dort fest gelegt, dass der Islam Staatsreligion ist.

Thomas Bauer (Foto: Universität Münster)
Thomas Bauer: Islam ist in Ägypten sichtbarer gewordenBild: Julia Holtkötter

Bentlage und auch sein Kollege Bauer gehen davon aus, dass sich in der neuen Verfassung de facto nicht viel ändern wird. Die Partei der Muslimbrüder hat bereits eine Skizze ihres Verfassungsentwurfs veröffentlicht, den sie in der Versammlung vorstellen möchte. "Der grobe Rahmen der bestehenden Verfassung und auch der staatlichen Ordnung bliebe danach bestehen", sagt Bentlage. Änderungen könnte es im Justizwesen, in der Finanzaufsicht und bei der Pressefreiheit geben: Der Einfluss der Exekutive soll hier reduziert werden. Ziel sei - wie in der noch gültigen Verfassung - ein säkularer Rechtsstaat, der "mit Sicherheit ein religiöses Selbstverständnis haben werde". Bentlage hofft aber, dass es im Alltag mehr Freiheiten geben werde als bisher.

Annette Ranko, wissenschaftliche Mitarbeiterin am GIGA-Institut in Hamburg sagt, die Muslimbrüder könnten nun unter Beweis stellen, ob sie tatsächlich einen zivilen Staat mit islamischem Referenzrahmen wollten. Bislang seien die Muslimbrüder nämlich von den Ägyptern als Reformkraft wahrgenommen worden.

Annette Ranko (Foto: GIGA-Institut, Hamburg)
Annette Ranko: Es gibt entscheidende Unterschiede zwischen Muslimbrüdern und SalafistenBild: GIGA Institut

Der Islamwissenschaftler Bauer sieht die neue Verfassung nicht als entscheidend an. Für ihn sind es "die Gesetze, die im Laufe der Zeit verabschiedet werden, und ob diese demonstrativ islamisch sind."

Islam ist nicht monolithisch

Dass sich dafür die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit der Muslimbrüder mit der fundamental-islamischen Partei des Lichts verbrüdert, ist derzeit eher unwahrscheinlich. Beide zusammen haben zwar die Mehrheit im Parlament und in der verfassungsgebenden Versammlung, aber die Unterschiede zwischen den beiden Parteien sind größer als die Gemeinsamkeiten. Das beginnt bereits beim Islamverständnis. Annette Ranko sagt im Gespräch mit der Deutschen Welle, dass "nach Sicht der Muslimbrüder die religiösen Quellen zeitlose, ethische Vorgaben sind." Diese könne man den Gegebenheiten anpassen, da sie "als Moralprinzipien verstanden werden".

In der salafistischen und von Saudi-Arabien unterstützten Partei des Lichts hingegen sei man der Ansicht, dass der Koran und andere religiöse Quellen Gesetzestexte seien, die hundertprozentig angewendet werden sollten. Bauer bezeichnet deren Islamverständnis gar als "naiv" und fügt an, dass der Westen "vom Bild des monolithischen, einheitlichen Islam abrücken müsse". Im Koran gebe es keine festen Vorgaben für das Verhältnis von Politik und Religion.

Bentlage sieht eine große gegenseitige Abneigung zwischen den beiden islamischen Parteien und meint, die Partei des Lichts müsse zeigen, ob und inwieweit sie bereit sein werde, am normalen parlamentarischen Betrieb teilzunehmen. Die Muslimbrüder hingegen haben Parlamentserfahrung, sind wesentlich pragmatischer - und haben mehr zu verlieren. Denn bislang, so Ranko, hätten sie damit Werbung gemacht, dass sie ein Ausgleich der verschiedenen Kräfte seien. "Man sollte jetzt", ergänzt Bauer, "den Ägyptern zutrauen, dass sie ihre eigenen Diskussionen führen."